Schweizer Schmiedezünfte: Traditionen, Besonderheiten, Bedeutung früher und heute im Vergleich. Ein erster Einblick bei den Bernern.
Wo heute in Bern der Bahnhof steht, musste 1865 der mittelalterliche Christoffelturm dem Eisenbahnzeitalter weichen. Namensgeber war die knapp 10 Meter hohe Holzstatue des heiligen Christophorus, die den Turm des Stadttors zierte. Eines Nachts, kurz vor dem Abriss, kletterte ein Zünftler namens Dr. Edmund von Fellenberg über die Absperrungen und entwendete Christoffels hölzernen Daumen.
Wo und wie dieser Daumen wieder auftauchte, und was das mit der heutigen Zunft zu Schmieden zu tun hat? Dies erfahren wir zehn Gehminuten entfernt, am Schmiedenplatz 5, dem Sitz der Zunftgesellschaft zu Schmieden.
Geschmiedetes Wappensymbol: der «Essenwurm».
Quelle: Zunftgesellschaft zu Schmieden
Geschmiedetes Wappensymbol: der «Essenwurm».
Quelle: Zunftgesellschaft zu Schmieden
Die Geschichte vom «Essenwurm»
Beat Rüdt, Vizeobmann und Chefredakteur des zunfteigenen Mitteilungsblattes «Essenwurm», weiss viel zu erzählen. Auch, was der Wurm mit der Esse zu tun hat. Das Zunftwappen zeigt nämlich einen feuerspeienden Wurm, der ein glühendes Stück Eisen erhitzt. Der Legende nach befeuert dieser Wurm die Esse – also das Schmiedefeuer, über dem das Eisen zum Glühen gebracht wird. Der Essenwurm im Wappen erinnert in seiner Form aber auch an den Äskulapstab, das Symbol der Ärzte und Apotheker.
Einige unter Anleitung der «Ysige» geschmiedete Metallobjekte
Quelle: Zunftgesellschaft zu Schmieden
Einige unter Anleitung der «Ysige» geschmiedete Metallobjekte
Quelle: Zunftgesellschaft zu Schmieden
Einige unter Anleitung der «Ysige» geschmiedete Metallobjekte
Quelle: Zunftgesellschaft zu Schmieden
Ärzte mit Hammer und Zange
Die Berner Zunft zu Schmieden wurde im 14. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt. Ihr mussten alle Berufsleute angeschlossen sein, die mit Metall zu tun hatten. Neben den Schmieden und Schlossern waren dies auch Apotheker und Ärzte. Das scheint kurios, ist aber auch andernorts so, zum Beispiel in Zürich. Der Grund liegt wohl darin, dass die mittelalterlichen Mediziner an ihren Patienten Gerätschaften anwandten, die nur geringfügig feiner waren als die Zangen und Hämmer der Schlosser und Schmiede.
Die «Ysige» veranstalten regelmässige Schmiedekurse
Quelle: Zunftgesellschaft zu Schmieden
Bezug zum Metall: Die «Ysige»
Da die Zunftmitgliedschaft vererbt wird, ist heute unter den Mitgliedern der Zunft zu Schmieden der Anteil an Metallbauberufen, Huf- und Kunstschmieden oder auch Landtechniker nicht mehr höher als in jeder zufällig zusammengewürfelten Gruppe der Bevölkerung.
Der Bezug zum Metall wird dennoch gehegt und gepflegt, etwa an Veranstaltungen und in Kursen. Am halbjährlichen «Bott» zum Beispiel (so heisst die Gemeindeversammlung der Zunft) wird mit Hammerschlägen auf den Amboss für Ruhe und Aufmerksamkeit gesorgt.
Eine bedeutende Rolle nehmen die «Ysige» (die «Eisernen») ein. Dies sind rund 20 Zunftangehörige, die das Schmiedehandwerk aktiv ausüben – indem sie an geschmiedeten Objekten und Projekten mitarbeiten, am Nationalen Pferdezentrum Bern an Schmiedeabenden teilnehmen und Schmiedekurse für Anfänger und Fortgeschrittene anbieten.
Weiter wird der metallverarbeitende Ursprung durch Partnerschaften mit anderen Organisationen zelebriert, zum Beispiel der IG Schmiede. Die Zunft sponsert ausserdem einen Preis für die besten Lehrabschlüsse bei den Hufschmieden.
Berner Besonderheit: Burgergemeinde
Eine Besonderheit der Berner Zünfte ist ihre Rolle in der Burgergemeinde. Wichtigste Aufgabe der Schmiedezunft ist die Sozialhilfe für ihre Angehörigen, wahrgenommen anstelle der Einwohnergemeinde bzw. im Auftrag des Kantons. Dafür wird der Hauptteil des Budgets aufgewendet. Der Rest geht hauptsächlich an Zuwendungen im Bereich Kultur und Wissenschaft, wobei stets ein Bezug zu Bern gegeben sein muss. Ein passender Nutzniesser ist 2024 das Naturhistorische Museum.
Anderswo sind Zünfte lediglich Vereine und unterstehen dem Privatrecht. Wenn zum Beispiel Zürcher Zünfte noch bis vor wenigen Jahren keine Frauen zulassen wollten, konnten sie das tun. In Bern wäre das unmöglich, dort unterstehen Zünfte dem öffentlichen Recht. In der Zunft zu Schmieden korreliert der Frauenanteil denn auch mit der Gesamtbevölkerung – die rund 1’650 «Schmiedenburger» bilden einen Querschnitt der Gesellschaft ab.
Dies schätzt Beat Rüdt besonders: Den regen Austausch mit einer breiten Palette an Menschen jeden Alters, aus unterschiedlichsten Schichten. «Kein Verein, keine andere Gemeinschaft, wo ich aktiv bin, ist so gut durchmischt», meint der Vizeobmann. Für ihn ist die Schmiedezunft auch ein Stück Heimat, «sie stiftet Identität». Man kennt sich und pflegt die Geselligkeit. Nicht zuletzt fördert das Zunftwesen das freiwillige Engagement in der Gesellschaft. Ein entsprechendes Versprechen geben erstmals am Bott teilnehmende Zünftler ab. Das sind Zunftangehörige, die das achtzehnte Altersjahr erreichen oder Personen, die neu in die Zunft aufgenommen werden. Davon gibt es etwa drei oder vier pro Jahr. Das Versprechen wird im Schmiedensaal des Zunfthauses abgegeben.
Der Daumen-Becher: hergestellt aus dem Daumen der ehemaligen Christoffel-Statue
Quelle: Zunftgesellschaft zu Schmieden
Am Daumen des Christoffel nippen
Aber wo bleibt der entwendete Daumen der Christoffelstatue?
Mehr als 20 Jahre später, anno 1887, tauchte der Daumen des Christoffels wieder auf. Er war zu einem kunstvollen Becher umgearbeitet worden. Dieses Trinkgeschirr steht heute in der Schatzkammer des Historischen Museums Bern. Alle zwei Jahre wird der Daumenbecher der Zunft zu Schmieden leihweise herausgegeben. An einem traditionellen Festessen, der «Schaumkelle», stossen die Zünftler damit an und trinken aus dem Daumen des heiligen Christophorus.
Mehr dazu hier: Zunftgeschirr | Zunftgesellschaft zu Schmieden.